„Missing Link“

Dr. med. Dorothee Radtke • 19. Juli 2024

Vor 4 Jahren warf die erzwungene Auszeit bedingt durch den ersten Corona-Lockdown viele Fragen bei mir auf. Wie würde ich mein sehr aktives, ja umtriebiges Leben zukünftig gestalten, wovon mich verabschieden, wo Schwerpunkte setzen, was an Neuem in mein Leben einladen?

Ich hoffte, die Antworten im Spiegel der Natur während einer klassischen Visionssuche oder Visionquest zu finden. Wir trafen uns im Sommer 2020 für 10 Tage in einem wunderschönen Waldgebiet in Hessen. Wir – das waren 5 Frauen und 7 Männer und ein 4-köpfiges Betreuerteam. Die ersten 3 Tage dienten der Vorbereitung, der Fokussierung auf das Ziel, dem Loslassen von emotionalem Ballast, dem Finden des Platzes, dem Vertrautwerden mit dem Wald und der Nacht sowie praktischen Fragen zum Umgang mit verschiedenen Gefahrensituationen.

Dann folgte die eigentliche „Schwellenzeit“, 4 Tage und 4 Nächte alleine, fastend im Wald, nur mit Matte, Schlafsack, Plane, Tagebuch und ein paar Kanistern Trinkwasser, ohne Handy, Buch, Fotoapparat oder andere Ablenkungen. 4 Tage und Nächte nur ich selbst und mein Platz im Wald. Diesen fand ich inmitten eines lichten Buchenwaldes auf einer kleinen Hügelkuppe, umgeben von höheren Hügeln mit Buchen und Fichtenbeständen.

Ich beschäftigte mich inhaltlich mit allen Bereichen meines gegenwärtigen Lebens, aber auch noch einmal mit vielen Themen der Vergangenheit, sortierte, zog Bilanz, schloss Frieden.

Am überwältigendsten aber waren meine Erlebnisse in und mit der Natur. Ich hatte mein Lager wohl an einem Wildwechsel aufgeschlagen. Auf jeden Fall begann mit dem Dunkelwerden ein nächtliches Konzert. Ich hörte Schritte durchs Gehölz brechen, näherkommen, verharren, Schnauben und Quieken und Wühlen im Laub, Käuzchenrufe, das volle Programm. Mit Wegfallen des Sehsinns schärften sich alle anderen Sinne. Es half mir nur bedingt, dass ich wusste, dass es in diesem Gebiet noch keine Wolfssichtungen gegeben hatte und ich – wie ein Mit-Quester so schön formulierte - an der Spitze der Nahrungskette stehe. In der 1. Nacht war ich so müde gewesen, dass ich gleich eingeschlafen war und nichts mitgekriegt hatte. In der 2. Nacht saß ich aufrecht unter meinem Schutzdach, das Herz schlug mir bis zum Halse und an Schlaf war kaum zu denken. Ich fühlte mich ziemlich klein, ausgesetzt und allen Mitgeschöpfen im Wald hoffnungslos unterlegen.

In der 3. Nacht waren wieder die gleichen Geräusche zu hören, aber ich habe sie völlig anders erlebt, neugierig, interessiert, entspannt. Natürlichen wussten die Tiere von meiner Gegenwart, aber sie ließen sich durch mich nicht stören in ihren nächtlichen Aktivitäten und auch sie störten oder bedrohten mich nicht. Und am Morgen des 4 Tages habe ich den Satz verstanden, dass die zivilisatorische Schicht, die uns von der Wildnis trennt, nicht dicker ist als 3 Tage und 3 Nächte. Ich hatte angefangen, mich als Teil des Waldes, Teil des großen Lebensnetzes zu fühlen.

Noch nie habe ich mich dem Heiligen so nahe gefühlt wie dort auf dem Hügel unter den Buchen, soviel Frieden erlebt, Liebe, Demut, Dankbarkeit, Geborgenheit, Aufgehobensein. Kaum zu beschreiben!

Die letzten 2,5 Tage der Visionssuche dienten dem Erzählen unserer Geschichten und der Vorbereitung auf die Rückkehr in den Alltag.

Was ist geblieben von den 10 Tagen im Wald? Die immer noch lebhaften Erinnerungen an diese tiefen Gefühle und Erfahrungen, die Verabschiedung einiger Dinge, die mir viele Jahre lang beruflich und privat viel bedeutet hatten und der Beginn einer wildnispädagogischen Ausbildung, die mein Leben seitdem ausfüllt und immens bereichert.

Als Bedeutsamstes für mich bleibt jedoch die Erkenntnis, dass es der Rückverbindung mit der Natur bedarf, um sich wieder wahrhaft ganz und heil zu fühlen. Die tiefe Erfahrung im Wald war das „Missing link“, das mir auf meiner jahrzehntelangen Suche nach dem Heilenden noch gefehlt hatte. Danke Wald für dieses Geschenk!

Dr. med. Dorothee Radtke

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